Wolfgang Michel-Zaitsu, Traditionelle Medizin in Japan. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München, Kiener. 2017. ISBN 978-3-943324-75-4. 400 S. €
Eine Geschichte der „traditionellen Medizin in Japan“ zu verfassen, ist kein einfaches Unterfangen. Obschon die Geschichte der Medizin in Japan nicht so weit in die Vergangenheit datierbar ist wie die der Medizin in China, und obschon Japan geographisch und kulturell nicht so vielfältig ist wie China, stellt die Historiographie der „traditionellen Medizin in Japan“ Anforderungen an den Autor, die umfassender sind als die Herausforderungen an den Chronisten, der sich der Geschichte der chinesischen Medizin widmet. Die Geschichte der „traditionellen Medizin in Japan“ ist im Kern die Geschichte der chinesischen Medizin in Japan seit dem 8. Jahrhundert und dazu noch die Geschichte der Beeinflussung dieser Medizin in Japan durch die europäisch-amerikanische Medizin im Verlauf der vergangenen vier, fünf Jahrhunderte. Das heißt, der Autor des hier zu besprechenden Buches muss in drei Arenen gut bewandert sein, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Seine Kompetenz muss die Eigenarten und die wechselvolle Geschichte der chinesischen und der „westlichen“ Medizin ebenso umfassen wie die Bemühungen der Japaner, zunächst die chinesische Medizin ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen anzupassen und weiter zu entwickeln und schließlich auch die „westliche“ Medizin bei der Weiterentwicklung der japanisierten chinesischen Medizin zu berücksichtigen. Man kann mit gutem Gewissen dem Autor bescheinigen, dass er all diesen Anforderungen entsprochen hat. Das Ergebnis ist ein sehr faktenreiches Buch, das dennoch leicht lesbar geschrieben ist und durch zahlreiche, bislang im westlichen Schrifttum nicht bekannte Abbildungen derart illustriert ist, dass die Lektüre immer wieder durch anschauliche Beispiele aufgelockert ist.
Wolfgang Michel-Zaitsu, der in Japan seine zweite Heimat und berufliches Unterkommen gefunden hat, hat über viele Jahre detaillierte Studien über die Frühzeit der Begegnung Japans mit der Medizin der Europäer und umgekehrt der Berichte von Europäern über die Medizin in Japan publiziert. Das nun vorgelegte Buch mag als eine umfassende Gesamtschau auf diese Themen angesehen werden. Der Autor beginnt in einem Teil 1, Ad Fontes, mit einer Darlegung „Grundkonzepte und Terminologisches.“ Das ist insbesondere für diejenigen Leser hilfreich, die hier erstmals mit den Theorien der chinesischen Medizin konfrontiert werden. Es ist verständlich, dass Michel-Zaitsu sich hier auf die Aspekte beschränkt, die sich für ein Verständnis der Rezeption der chinesischen Medizin in Japan als relevant erweisen; die theoretische und klinische Heterogenität der chinesischen Medizin fand in ihrer Gesamtheit keinen Eingang in Japan und muss daher hier nicht ausgeführt sein. Teil 2 behandelt „Aufbruch und Ausformung. Von der Begegnung mit der Medizin Chinas bis zu den frühen Versuchen der Anpassung chinesischer Lehren an japanische Bedingungen.“ Teil 3 dann erläutert „Emanzipation und Ausweitung“. Hier sieht der Autor „Aufkommen und Entfaltung einer eigenständigen Tradition im Spannungsfeld zwischen chinesischer und westlicher Medizin.“ Eigenständig kann man das sicher nennen, aber der Autor ist stets den Fakten verbunden. Diese Eigenständigkeit ist letztlich der des Autoherstellers Toyota oder des Schnellzugs Shinkanzen zu vergleichen: auf technologischen und wissenschaftlichen Vorgaben einer fremden Kultur beruhend hat Japan hier eine eigenständige Technologie der Mobilität entwickelt, die nun wiederum in jene fremde Kultur als japanische Leistung exportiert werden kann. Dies deutet sich auch für die „traditionelle Medizin“ Japans, die die Japaner noch heute kanpo, also „Chinesische Rezepturen,“ nennen im Teil 3 des Buches an: Zäsur und Wiedergeburt. Der Überlegenheit der „westlichen“ Medizin in vielen Bereichen entsprach im 19. und frühen 20. Jahrhundert ähnlich wie in China die nahezu völlige politische Bedeutungslosigkeit der heilkundlichen Traditionen. Doch dem folgte, ebenso wie auch in anderen Kulturen, die Erkenntnis, dass die moderne Medizin ihre Schwächen hat und dass traditionelle Verfahren durchaus eine Berechtigung haben. Der dritte Teil schließt folgerichtig mit „Wiederentdeckung, Weiterentwicklung und Nutzung im 20. Jahrhundert.“
Unter den Übertiteln der drei Teile bieten zahlreiche Einzeldarstellungen einen Blick auf nahezu alle nur denkbaren Facetten einer historischen Heilkunde. Von der Geschichte der medizinischen Literatur bis hin zu der Bedeutung der Thermalquellen. Der Austausch vor allem mit China spielt freilich eine Hauptrolle. Michel-Zaitsu versteht es, die Anregungen vom Festland ebenso wie die durch allerlei kulturelle, politische und geographische Beschränkungen bedingte Anpassung der chinesischen Medizin aufzuzeigen. Doch Japan hat nicht nur von China angenommen, es hat auch China und Korea selbst beeinflusst. Dies war zunächst der Tatsache geschuldet, dass China sich länger als Japan weigerte, seine Kultur für westliche Einflüsse zu öffnen. Dadurch erlangte Japan einen wissenschaftlichen, technologischen und eben auch medizinischen Vorsprung, der zu Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts viele Chinesen nach Japan lockte, von wo sie mit neuen Ideen, und auch neuem Vokabular, in die Heimat zurückkehrten. Als Japan sich dann ermutigt sah, endlich dem großen, bisher so übermächtigen Nachbarn und Kulturgeber, ebenso wie Korea und Taiwan, in einer beispiellosen Anwendung von Grausamkeit und Gewalt seine Herrschaft aufzudrücken, da fanden auch Elemente der japanischen Version traditioneller Medizin Eingang in die eroberten Gebiete. Die Hintergründe und konkreten Ereignisse, die mit dem japanischen Imperialismus im 20. Jahrhundert verknüpft sind, sind verständlicherweise nicht Gegenstand der hier vorgelegten Geschichte, aber da der Autor die „traditionelle Medizin in Japan“ verfolgt, lag es nahe, zumindest andeutungsweise auch die Gebiete einzubeziehen, die eine Zeitlang der Expansion Japans zum Opfer fielen.
Es gehört heutzutage für einen Verlag schon Mut dazu, eine solch ausführliche Geschichte der Medizin in einer fernen Kultur zu veröffentlichen. Dem Verlag Kiener ist mit diesem Buch ein sehr informativer Beitrag zur Medizingeschichte gelungen, dem man zahlreiche Leser wünschen möchte. Noch ist das Fach „Geschichte der Medizin“ in Deutschland allzu sehr auf die Entwicklungslinie Griechenland- Römische Antike – Europäisches Mittelalter – Neuzeit – Gegenwart fixiert. Hier bietet sich ein inhaltsreiches Werk, mit dessen Informationen diese Beschränkung zumindest teilweise überwunden werden kann.
Paul U. Unschuld, Berlin