Anke Bergmann über "Wodka mit Grasgeschmack" (Markus Mittmann)

„Warum sind wir so geworden, wie wir sind?“ - Dieses Motto des Buches trifft auch meine ganz persönlichen Grundfragen als Kriegsenkelin. So hat mich der „Wodka mit Grasgeschmack“ nicht nur an filmartige Handlungsorte versetzt, sondern auch in eine Welt der überraschenden Gedanken und den damit verbundenen eigenen Beobachtungen und Entdeckungen, vom Anfang bis zum Epilog: „Vergangenheit ist der falsche Begriff für die Vergangenheit. Je genauer man hinsieht, umso deutlicher erkennt man, wie lebendig sie sich unter uns herumtreibt.“

Zwei erwachsene Söhne (einer ist der Ich-Erzähler und Protagonist) unternehmen mit ihren Eltern eine spannende Reise „mit Schweinebauch und Kraut“ in das heutige Polen an jene Orte, die Mutter und Vater vor über 70 Jahren als Kinder bei der Vertreibung plötzlich und für immer verlassen mussten und seitdem mit einer zumeist verschwiegenen Sehnsucht lebten. „Um diese Sehnsucht geht es, diese laute Sehnsucht, die sich niemals abschütteln ließ und sie verfolgte, wie Blechdosen das Hochzeitsauto.“, schreibt Mittmann gleich am Anfang dieses so weltlich und lebendig in der Gegenwart spielenden und gleichzeitig oft so poetisch daherkommenden Textes, der schon im Titel auf die sinnliche Darstellung verweist.

Und genau das war es auch, was mich das Buch gleich zu Beginn nicht aus der Hand legen ließ, dieser überall erleichternd wirkende tiefgründige Humor, diese bildlich verständliche Sprache mit der Mittmann seinen Erzähler respektvoll und liebevoll auf seine Eltern schauen lässt und auf seinen Bruder, mit dem ihn ein eher angespanntes Verhältnis verbindet. „Wollt ihr noch Fallobst sammeln?“, fragt dieser ungeduldig seine Eltern, als sie noch einen Moment zögernd vor ihrem Heimatdorf stehen bleiben. Doch es zeigt sich, dass der Bruder damit, wie auch der Protagonist und seine Eltern, einfach nur sein ganz persönliches Mittel gefunden hat, mit der übernommenen „Kriegsenkeltrauer“ umzugehen und dass es davon viele Erscheinungen gibt.

Die vier Hauptpersonen des Romans stehen stellvertretend für ganz unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Wenn am Ende des Buches der Protagonist versucht seine „sanfte Traurigkeit“ näher zu ergründen und er feststellt, dass sie nicht ihm, sondern seinen Eltern gehört, habe ich mich tief verstanden gefühlt. Es ist wichtig für mich Ursachen zu kennen, einfach weil es hilfreich ist seinen ganz persönlichen Frieden zu finden, auch jenen mit den eigenen Eltern und anderen Familienmitgliedern.

Als Kriegsenkel/in hat man an so vielem „zu knabbern“, was einem transgenerational in die Wiege gelegt wurde. Mittmann beschreibt dies alles in einer exemplarischen Geschichte, was das Thema sehr verständlich, aber auch geradezu angenehm vorführt und findet direkte Worte für vieles, was ich bisher nicht eingrenzen konnte, was mir nicht einmal klar war. So z.B. wenn von einer „Angstkapsel“ die Rede ist, die wir für unsere Eltern aus Liebe mittragen, weil wir gute Kinder sein wollen, auch wenn wir den Inhalt gar nicht kennen und er sich schwer anfühlt. Wir haben „längst ihr Lebensgefühl übernommen, wie ein Lied, das man mitsingt oder nur mit summt. Wir meinten, es dürfe uns nicht gut gehen, und konnten nicht erklären, warum wir uns traurig und haltlos fühlten oder unsicher und getrieben. Manchen Nachgeborenen wurde dieses Gefühl zur Angst vor Enge oder Dunkelheit oder Kontrollverlust, es gibt ein ganzes Kaufhaus davon.“

Nach der Reise in den Osten unternimmt der Protagonist mit seinem kleinen Sohn weitere Entdeckungstouren, bei denen sich beispielhaft herausstellt, dass die Folgen der Vergangenheit in mehr als einer Generation spielen. Der kleine Sohn sagt oft überraschend Wissendes: „Es ist gut, wenn man etwas findet.“

Wer jetzt denkt, es wäre ein grüblerischer Text, kann beruhigt sein: Ich konnte an so vielen Stellen herzhaft lachen, und es kam mir vor, als ob der Autor aufpasst, dass nach Vergangenheitspassagen immer wieder ein „Gegenmittel“ gegeben wird.

Ich habe dieses wunderbar facettenreiche Buch mit großem Gewinn gelesen, es war gleichzeitig aufdeckend und tröstlich, und ich denke, dass es dies für alle sein kann, die sich mit der Kriegsenkelthematik befassen oder einfach mehr über sich selbst wissen wollen und auf jeden Fall auch für jüngere Menschen. Inzwischen habe ich das Buch schon mehrfach gelesen und dabei immer Neues und Kostbares entdecken können, denn es ist eine Geschichte, die zur Versöhnung mit sich selbst anregt und die eigenen Gedanken weiterträgt.

Anke Bergmann, Berlin, August 2021 für kriegsenkel.de