Michael Brinkers über "The Living Arm" (Hans von Baeyer)

Der Autor Hans von Baeyer, von Beruf Orthopäde, schrieb das Buch „der lebendige Arm“ 1930. Als erstes drängt sich dazu die Frage auf nach der Bedeutung des Titels. Wenn man einen lebendigen Menschen untersucht, ist doch im Allgemeinen auch der Arm lebendig.?

Von Baeyer nähert sich dem Thema in sechs Kapiteln:

  • Die Form des Arms
  • Die Mobilität des Arms
  • Der Arm als Werkzeug
  • Der Arm als Wahrnehmungsorgan
  • Der Arm in verschiedenen Stadien des Lebens
  • Der Arm als Ausdrucksorgan.


Im größten Kapitel (Mobilität) stellt er mit der Bedeutung der Umgebung nicht nur für das Gesamtindividuum, sondern auch für den einzelnen Körperteil, einen Aspekt heraus, der erst 24 Jahre später eine der Aussagen der Kybernetik werden sollte: die Wechselwirkung zwischen dem Menschen, dem System und der Umgebung.

Hans von Baeyer wendet sich außerdem in diesem Kapitel gegen die Ansicht
„1 Muskel = 1 Funktion“. Dies belegt er in drei Beispielen:

  • Mit der Formulierung, dass beispielsweise der M. biceps brachii nicht nur für eine Flexion des Unterarms sorgt, sondern über die Relaxation plus Schwerkraft auch für eine Extension, trifft er eine Aussage, die erst Jahre später im Prinzip der „Postisometrischen Relaxation“ (PIR) wieder auftaucht.
  • Mit der Aussage, dass flexible Elemente über eine Unterstützung der Bewegung für einen geringeren Kraftaufwand sorgen, erklärt er den additiven Nutzen von Muskeln wie dem M. deltoideus. In diesem Zusammenhang macht er auch die Bedeutung des Titels klar. Denn, während beim Arm des Gesunden der M. deltoideus die Anteversion des retrovertierten Arms unterstützt, kann ein Kriegsversehrter mit amputiertem Arm (und entsprechender Prothese) diesen nur aktiv und unter schneller Ermüdung bewegen.
  • Durch die Wahl der Bewegung in den Gelenken haben wir einen bestimmten Vorrat (eine Reserve) in den Positionskombinationen der Gelenke, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.??In den vier weiteren Kapiteln beschreibt der Autor, was man mit dem lebendigen Arm alles machen kann. Er stellt dabei Sachverhalte vor, die im heutigen Medizinstudium in der Anatomie und Physiologie zwar auch gelehrt werden, dazu schreibt er aber in der Zusammenfassung, dass es nicht um eine bloße Aufzählung von Phänomenen ging.


Vielmehr sieht er den Arm als Beispiel für das ganze Individuum, vor allem in zwei Positionen:

  • Besitzt ein System keine Alternativwege (hier Reserven genannt) um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, könnte es bei der kleinsten Störung zerfallen.
  • Das Individuum in seiner Gesamtheit drückt sich über den Arm aus.


Diese beiden Positionen stellen die neue Sichtweise des Autors dar: das Konzept des Menschen eingebunden in die Natur (Umgebung).

Insgesamt ein modernes/interessantes Buch, das auch heute noch für an Manualmedizin und Kybernetik Interessierte lesenswert ist.

Michael Brinkers, Januar 2023