Tom Ots über "Ikonen weinen nicht" (Max Zihlmann)

Ein bislang verkannter bzw. noch nicht entdeckter Dichter („Rimbo trinkt und schreibt Gedichte, wenn er nicht Gedichte schreibt und trinkt“) klaut  – einem für ihn unerklärlichen Impuls folgend – in einem Münchener Antiquitätengeschäft eine Ikone. Und da er als verkanntes und natürlich monetär klammes Genie gerade mal wieder keine richtige Unterkunft hat, stellt er sie bei einem Freund unter. Und dort beginnt die Ikone aus dem linken Auge eine ölige Flüssigkeit abzusondern. Die todkranke Katze des Hauses schleckt von  der Flüssigkeit und gesundet spontan. Ein Wunder! Das wäre ja  gar kommerziell umsetzbar, ja wäre die Ikone nicht geklaut.

Also wird zunächst beschlossen, die ganze Angelegenheit als ein Geheimnis zu behandeln. So geheim, dass bald eine große Menge von Menschen hiervon weiß – das aber konspirativ! Und wie sie alle von den Tränen der Ikone profitieren! Die alte Tante läuft wieder wie ein Teenager, der Dichter hört auf zu trinken ... Und wo alle noch glauben, dass auch ihnen ein Wunder geschehen ist, stellen sich doch ganz und gar keine wundersamen Lebensläufe ein: Eine Frau verlässt ihren Mann, weil der sich noch nicht sicher ist, ob er ihren Wunsch nach einem Kind erfüllen möchte, wird sofort von einem gemeinsamen Bekannten schwanger, der aber wiederum nicht von seiner bisherigen Freundin lassen kann und verschwindet – nach Oldenburg! Der Verlassene verliebt sich in seine Spanisch-Lehrerin, was aber auch nicht länger hält, der Dichter verliert am zweiten Tag seinen neuen Job als Kritiker in einem Verlag.

Mit ungeheuer feiner Feder zeichnet der Autor Schicksale bestimmter Menschen und ihre Verflechtung auf, verknüpft Alltägliches und Wundersames. Und zwar so elegant, so leicht und geschmeidig, so plastisch, dass die Geschichte wie ein Film vor meinem geistigen Auge ablief. Kein Wunder, denn der Schweizer Autor war unter anderem auch Verfasser von Hörspielen, schrieb  Filmkritiken und produzierte selber einen Film.

Fazit: Ein hervorragend geschriebenes Buch, voller Witz und Humor, total fesselnd: irgendwie eine Mischung aus modernem Mystery-Märchen und Krimi. Allerdings mit einem unerwarteten Ende. Ein ideales Buch für den Sommerurlaub, das man wahrscheinlich in einem Rutsch durchlesen wird. Ich wette, dass es Corona-Pandemie-Geschädigten dazu verhelfen kann, wieder die Vielfalt des Lebens und das Unvorhergesehene lieben zu lernen.

Thomas Ots
ots@daegfa.de