Marcus Lischent über "Schriftensammlung Erich Blechschmidt – Gesicht, Kopf, Nervensystem"

In einem frischen Grün liegt es vor mir auf dem Schreibtisch: Erich Blechschmidt, neu aufgelegt. Der Herausgeber Konrad Obermeier hat mit der Witwe Traute Blechschmidt (die in der Zwischenzeit leider verstorben ist) einige teils weniger, teils besser bekannte Schriften aus dem reichen Schaffenswerk von diesem großen Denker der Anatomie und Embryologie gesammelt und in neuer Form kombiniert. Für den Blechschmidt-Kenner nichts Neues. „Nichts Neues gibt es unter der Sonne“, sagte Anthony Chila einmal in einer Osteopathie-Vorlesung. Wer sein Lächeln und seine Aussagen kennt und versteht, weiß, wie er das meinte: Was es zu begreifen gilt, ist das Fundament der Osteopathie, Embryologie als Teil der Anatomie, als funktionelle Anatomie. Es ist nicht nötig, Neues „zu suchen“. So auch in diesem Buch:

Blechschmidts Schriften – im vorliegenden Buch geht es um Gesicht, Kopf, Nervensystem – sind Fundamente eines Wissens, auf das nicht nur Osteopathen aufbauen, sondern viele unterschiedliche Berufsgruppen: Anatomen, theoretische Biologen, Zellbiologen, Systemtheoretiker, Philosophen, Rolfer. Einige Vertreter dieser Berufsgruppen kommen in einem interessanten Vorwort des hier besprochenen Buches zu Wort. Auch wenn Blechschmidts embryologisches Wissen in die Jahre gekommen ist, verliert es Nichts an seiner Bedeutung, nein, eher gewinnt dieses gerade in der heutigen Zeit mehr an Bedeutung.

Bei der Arbeit mit jungen Osteopathie-Studenten fällt mir persönlich auf – im Speziellen wenn es um das Erspüren von Gewebe in der Zeit, von Mustern (Patterns), von Funktion und Struktur (Schaffen, Bauen von Raum), um das Erspüren der Gebärde bzw. des Einübens von Bewegung geht, um eben dieses Begreifen, – dass dann immer wieder der Verweis des Lehrers an die Studenten folgt: Blechschmidt studieren (lesen reicht nicht). Professor Rohen meinte einmal in einem persönlichen Gespräch: „Gewisse Bilder der embryologischen Entwicklungsphasen kann man nur im meditativen Betrachten erahnen (…).“ Und darum ist dieses Buch, dieses schöne hellgrüne Buch, für junge Osteopathen (und für alte natürlich auch…) ein Muss.

Der Einwand verschiedener Osteopathen, dass man bei Blechschmidt nicht stehenbleiben dürfe, dass sich auch das embryologische Wissen nach Blechschmidt weiterentwickelt habe, dass man seine Ideen, speziell jene der „Felder“, weiter erforschen müsse und dieses „Felderwissen“ auch in der derzeitigen Wissenschaft vorhanden und in Blechschmidts Denken integrierbar sei, ist berechtigt. Blechschmidt, intuitiver Scharfdenker, hätte heute sicherlich nichts dagegen, wenn neues gesichertes Wissen in sein embryologisches Fundament eingearbeitet werden würde. Das Wissen über Felder – morphologische Felder, morphogenetische Felder – gehört hier hinzu.

Abschließend sei ein weiterer wichtiger Grund genannt, Blechschmidt zu studieren, ihn zum Pflichtfach an Osteopathie-Schulen zu machen: Im Gespräch mit jungen Studenten wird als „erste Wissensquelle“ immer wieder das Mainstream-Lexikon Wikipedia erwähnt. Gerade anhand dieses „Nachschlagewerks“ kann man selbstdenkenden Osteopathie-Studenten die unschöne Art von „Wissenschaft“ bzw. die Verflechtung von Wissenschaft und Politik vor Augen führen. Hier – auf Wikipedia – wird z. B. der aufrichtige Göttinger Wissenschafter Blechschmidt ins rechte Eck, ja sogar ins Nazi-Eck gestellt, seine wissenschaftlichen Werke als „Meinung“ abgetan. Wie viele Mitglieder der österreichischen Bioethikkommission haben wohl Blechschmidt gelesen? Wohl eher wenige. Anders sind die Empfehlungen dieser Experten an die Politik zum neuen Präimplantationsgesetz (PID) nicht zu verstehen. Blechschmidt lesen und studieren hieße nämlich, Leben (und daraus folgend den Tod) besser zu verstehen und daraus erwachsenes Wissen zweckfrei im wissenschaftlichen Sinn (©Max Planck) einzusetzen. Hier hilft eben nur: selbst lesen, studieren, und dieses Wissen in die osteopathische Praxis integrieren. Auch unser verehrter Dr. Andrew T. Still meinte schon vor über hundert Jahren, „Osteopathie besteht aus Nichts als Wissen“.

Meinen Dank an den Herausgeber Konrad Obermeier und an Frau Dr. Traute Blechschmidt: ein schönes „neues“ Buch. Man nimmt es gerne in die Hand und liest und studiert immer wieder darin.

Marcus Lischent, Tamsweg, Salzburger Land
Osteopathische Medizin, 3/2015, Elsevier