Tom Ots über "Wodka mit Grasgeschmack" (Markus Mittmann)

Noch bevor ich merke, worum es eigentlich geht, zieht mich die Sprache in ihren Bann. Markus Mittmann ist ein wachsamer Beobachter dessen, was um ihn herum passiert, und er ist ein Meister der Metapher. Metaphern können an den Haaren herbeigezogen oder schwülstig sein, diese hier sind so passend, sie erfüllen mich eher mit Neid. Wenn ich doch auch so schreiben könnte, ja dann würde es mir auch gelingen, schon nach zwei Seiten diese dichte, spannungsgeladene Atmosphäre entstehen zu lassen, die diesem Buch seinen Stempel aufsetzt, dass man es nicht aus der Hand legen möchte.

Der Autor fährt mit seinen Eltern nach Polen, aber „nicht wirklich an einen bestimmten Ort“, denn das Ziel hat etwas mit Heimatlosigkeit der Eltern zu tun: „Wir fahren zu den Bildern in unserem Kopf.“ Die Eltern wollen noch einmal zurück in die Vergangenheit nach Schlesien, aus dem sie als junge Menschen 1946 vertrieben wurden. Und wie viele Menschen, die den zweiten Weltkrieg durchlebt haben, sind sie darüber die ganzen Jahre schweigsam gewesen – und etwas sonderlich geworden. Für den Autor und seinen Bruder „eine Fahrt in ein fremdes Land, für die Eltern aber in ein fremdgewordenes Land.“ Bis sie endlich vor Vaters Wohnhaus stehen ist nicht klar, ob sie das aushalten werden, ob sie nicht im letzten Augenblick doch noch mit dem gelben VW Käfer des Bruders eine Kehrtwende machen.

Doch dann tauchen sie plötzlich „knietief ein in die Vergangenheit“, sie kriecht ihnen unter die Haut – und dem Autor gleich mit. „Spätestens jetzt wird das Vergangene bis aufs Hemd ausgezogen.“ Die Gespräche mit den polnischen Bewohnern ihrer Häuser waren so nicht erwartet – allesamt Vertriebene. Dieses Erlebnis öffnet Schleusen. „Vergessen ist schlimme Krankheit, sagt Frau Tomaszewski, aus Galizien vertrieben, „nach Vergessen kommt alles wieder.“ Auf einmal brechen die Eltern ihr Schweigen – vor allem die Mutter, obwohl sie vorgibt, diese Bilder nicht mehr sehen zu wollen – und sie erzählen von der Zeit damals, von der Not und den Ängsten: „Schmerzen von damals, aber die Tränen frisch von heute.“ Und so entsteht eine neue Atmosphäre, die Atmosphäre einer Melancholie, und gerade hierdurch die Atmosphäre des Zusammenhalts einer Familie.

Irgendwann im Buch stellt der Autor einem polnischen Bekannten die Frage: „Wo liegt eigentlich das Ende der Vergangenheit?“ Auf der letzten Seite, sozusagen als Postskript, resümiert er: „Vergangenheit ist der falsche Begriff für die Vergangenheit. Je genauer man hinsieht, umso deutlicher erkennt man, wie lebendig sie sich unter uns herumtreibt.“ Nach Ende der Reise taucht der kleine Sohn des Autors auf, und der wird jetzt auch in die Geschichte einbezogen, faktisch die Fortsetzung der sich öffnenden Vergangenheit in die Zukunft.

Das könnte alles mehr als melancholisch sein, gar schwermütig. Aber davor bewahrt uns der Autor mit einem besonderen Talent, seinem grandiosen Humor. Ein ernsthaftes Buch zu einem ernsten Thema, bei dem ich vor allem im ersten Teil , der die Reise dorthin beschreibt, alle paar Seiten herzhaft lachen musste. Eine Kostprobe?

„Mein Bruder bläht sehr stark ..., und natürlich sammelt sich der Gestank bei den Fondpassagieren, wird dort eingeatmet und ausgeatmet ..., ein unfreiwilliger Filtervorgang, der die belastete Luft immerhin um ihre Schadstoffe erleichtert.“

Fazit: Ein wunderbares und facettenreiches Buch über die Neogenese einer Familie, das sich so wunderbar von der üblichen Schlesienliteratur unterscheidet. Das wäre auch trotz der detailreichen Darstellung der Geschehnisse von 1946 die völlig falsche Schublade. Eher schon: Zeugnis einer psychotherapeutischen Reise der Sprengung der im Brustkorb eingeschlossenen Traumata. Und last but not least ein Buch gegen den Krieg, gegen nationalistische Xenophobie: „Es gibt nur Menschen und einen Himmel über diesen Menschen.“

Thomas Ots, Graz Januar 2021