DZA über "Selbstfindung durch Wandlung" (J. Gleditsch)

Jochen M. Gleditsch
Selbstfindung durch Wandlung
I Ging – Code des Lebens
München: Kiener Verlag 2014, 154 S. viele s/w Abb. ISBN 9783943324204, €

Sagte ich, es handele sich hier um eine Analyse des I Ging (identisch mit dem Yi Jing der pinyin-Umschrift) als Orakelbuch oder der Beschreibung eines profilierten Akupunkteurs auf der Suche nach sich selbst, dann wäre das deutlich zu kurz gegriffen.
Jochen Gleditsch ist ein polarer Denker auf der Suche nach Ganzheitlichkeit und Sinn. Er sieht Leben und Erkenntnis nicht als geradlinigen Weg, sondern gespeist aus Polaritäten. Die Basis seiner Vorstellung ist gelebtes Leben – was jeder sofort spürt, der je einen Vortrag von ihm gehört hat. Er sieht, hört, empfindet, vibriert, vergleicht, springt über Brücken und zimmert selber welche. Kurz: Er ist ein Grenzüberschreiter: „Wir hätten uns wohl nie berührt, wenn wir Spezialisten geblieben wären. Wir begegneten uns aber im Menschenlande, das jenseits der akademischen Grenzpfähle beginnt. Meisterschaft besitzt erst derjenige, der sein Fach überwindet.“ Diese Sätze schrieb C.G. Jung im Vorwort des von ihm und Richard Wilhelm gemeinsam herausgegeben Buches über das I Ging „Geheimnis der Goldenen Blüte,“ und sie könnten auch ein Geleitwort zu diesem Buch eines Arztes sein, der die westliche Akupunktur entscheidend geprägt hat (Mundakupunktur, very Point Methode u.a.m.) und dem gleichzeitig kaum ein philosophisch-spirituelles Thema fremd ist. Auf dem Wege nach Erkenntnis menschlicher Lebensgestaltung hat sich Jochen Gleditsch mit den Werken vieler wichtiger  Denker, Dichter und Wissenschaftler auseinandergesetzt: Elisabeth von Bingen, Martin Buber, C.G. Jung, Sigmund Freud, Karlfried Graf von Dürckheim, Jean Gebser, Lama Anagarika Govinda, Dominique Hertzer, Hermann Hesse, Elisabeth Kübler-Ross, Paul D. MacLean, Maurice Mussat, Paracelsus, Jean Piaget, Bertrand Russell, Ken Wilber, Richard Wilhelm – um nur die wichtigsten zu nennen. Erstaunlich, wie viele von ihnen er noch persönlich kennengelernt und Kontakte gepflegt hat.
Was ist nun das Gemeinsame der Vorstellung all dieser unterschiedlichen Menschen in ihren Ansichten über die Sinnhaftigkeit der Menschwerdung, was das Besondere und Lesenswerte an diesem Buch? Jochen Gleditsch sieht den Prozess der Individuation und der psychischen Grundfunktionen als in vier Schritten verlaufend. In seiner einfachsten Form zu beschreiben als die Entwicklung vom „Es“ zum „Ich“ und nach einem qualitativen Sprung weiter vom „Ich – Du“ zum „Wir“. Insofern ist der Titel „Selbstfindung“ leicht tief gestapelt, denn Gleditschs Ziel ist nicht die ego-zentrische Erlösung, sondern die Freude im Sich-Befinden und Bewegen in einem größeren Ganzen.
Wie Jochen Gleditsch die in den acht Hexagrammen (4 x 2 Polaritäten) des I Ging versteckte Symbolik über Wesen und Werdegang des Menschen aufgezeichnet findet, wie er die Symbole und den binären Code dieser Hexagramme aufschlüsselt, und wie er dieses Enträtselte immer wieder mit historischen und aktuellen Vorstellungen vergleicht und zu mannigfaltigen Entsprechungen findet, das ist ungeheuer spannend – und manchmal auch leicht schwindelerregend. Anhänger der TCM werden sich jetzt fragen, wieso denn die Zahl vier und nicht die Zahl fünf des chinesischen Denkens, wie er sie noch in seinem 1983 erschienenes Reflexzonen-Buch sowie der Neuauflage 2005 vertrat [1, 2]? Das sollten Sie dann selber nachlesen. Hierzu nur so viel: „Die einzige Möglichkeit, im Kreisrund eines Achter-Systems einen fortlaufend aufsteigenden Wandlungsweg darzustellen, liegt in der Tat in der Durchkreuzung der Mitte: des Zentrums, welches beim zyklischen Zeitlauf nicht tangiert wird.“ (S. 22) Und wie sich von diesem „Spurwechsel“ (Gleditsch) oder „turn“ (C.G. Jung) – Ähnlichkeiten mit der sogenannten „mid life crisis“ als Chance einer Neuorientierung drängen sich förmlich auf – die bekannte Yin-Yang-Monade herleiten lässt – der Fachmann staunt, der Laie wundert sich.
Das Buch endet mit einer Aufzählung der von Jochen Gleditsch vorgeschlagenen „Lebensbegriffe nach den vier Prinzipien.“  Und wer diesen durch und durch spirituellen Menschen kennt, wundert sich nicht über den letzten Satz: Viertes Prinzip: freudig-dankbares Erfülltsein im Erspüren des Verbunden-Seins und der Zugehörigkeit zum größeren Ganzen.

Fazit: Lesenswert – lebenswert!

Literatur:
1. Gleditsch JM. Reflexzonen und Somatotopien – Als Schlüssel zu einer Gesamtschau des Menschen. Schorndorf: WBV Med.-Biol.-Verlagsges., 1983
2. Gleditsch JM. Reflexzonen und Somatotopien – Vom Mikrosystem zu einer Gesamtschau des Menschen. (9. überarbeitete und veränderte Neuauflage) München: Urban und Fischer, 2005

Thomas Ots
ots@daegfa.de