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Vorwort zur ersten Auflage
IX
Die modernen Erkenntnisse über Plastizität eröffnen bislang nicht für möglich gehaltene Reha-
bilitationschancen. Auffassungen wie „einmal Läsion, immer gestört“ sind fatalistisch und nicht
mehr zeitgemäß. Wir können wieder Mut schöpfen und unsere Aufgaben optimistischer ange-
hen.
Schon seit 1983 bietet das Instituut voor Toegepaste Neurowetenschappen (Stiftung ITON,
Institut für angewandte Neurowissenschaften, Haarlem, NL) eine praxisorientierte Ausbildung
in der Neurorehabilitation an. Innerhalb dieses Instituts sind wir bestrebt, die stets neuesten,
in ihrer Vielzahl oft geradezu unübersichtlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Neuro-
wissenschaften zu berücksichtigen und immer Wege zu finden, die neugewonnenen Erkennt-
nisse in eine praktische Anwendung überzuführen. Im Rahmen meiner dortigen Lehrtätigkeit
haben mich die Fragen und eingebrachten Problemstellungen der Seminarteilnehmer gewisser-
maßen gezwungen, die Inhalte des Seminars ständig zu aktualisieren, was letztendlich auch die-
sem Buch zugutekommt.
Die Wiederherstellung nach Hirnschädigung und Neurorehabilitation wird heute als ein Lern-
prozess betrachtet. Die enge Beziehung zwischen Plastizität und Lernen erlaubt es uns, Grund-
sätze der Lerntheorie als Bausteine einer effektiven Reha einzusetzen: aus Fehlern lernen, fehler-
freies Lernen, Selbstinstruktion, Bewegungsvorstellung, Feedback, Shaping und Chaining – die
Liste der brauchbaren Methoden wird immer länger, das therapeutische Repertoire immer grö-
ßer. Die Frage lautet nicht mehr: „Gibt es eine Therapie?“, sondern: „Wer bekommt welche The-
rapie zu welchem Zeitpunkt?“ Wir sehen uns also vor das nicht einfache Problem der richtigen
Auswahl gestellt.
Dieses Buch behandelt vorrangig die erworbenen Noxen des ZNS. Entwicklungsstörungen sowie
degenerative und chronische Erkrankungen kommen nur beiläufig zur Sprache.
Schädel-Hirn-Traumen und Schlaganfälle sind die wichtigsten Ursachen für Schädigungen
des Gehirns. Teile des Hirngewebes werden zerstört. Das Gehirn muss sich neu organisieren: Wie
kann intakt gebliebenes Gewebe eingesetzt werden, welche Strategien sind angemessen? Offen-
bar ist vieles möglich. Wir kennen Aphasiepatienten, deren Sprachgebiete sich nach erfolgrei-
cher Reha in die andere Gehirnhälfte verlagert haben. Bei der Wiederherstellung einer Lähmung
können viele benachbarte Gebiete die ausgefallenen Funktionen übernehmen. Aber immer noch
wissen wir nicht, warum die Rehabilitation bei dem einen Patienten gelingt und bei dem ande-
ren nicht. In diesem Buch versuchen wir, die wichtigsten der zahllosen Einflussfaktoren erfolg-
reicher Rehabilitation zu besprechen.
Da Rehabilitation fast immer multidisziplinär ist, richtet sich dieses Buch nicht nur an eine
Fachdisziplin. Die Fragmentierung der Rehabilitation in viele Disziplinen scheint logisch und
übersichtlich, bringt aber auch Nachteile und Risiken mit sich: Liegen Physio- und Ergothera-
peuten auf der gleichen Linie? Deckt sich der ärztliche Befund mit dem des Psychologen? Wer
soll eigentlich das Schreibtraining durchführen? Der Logopäde als Spezialist für Sprechen und
Sprache oder der Ergotherapeut als Spezialist für die Handmotorik?
Die Inhalte dieses Buches sollen allen teilnehmenden Disziplinen nützen und eine interdiszi-
plinäre Zusammenarbeit fördern. Beispielweise können bei einem Patienten mit Gedächtnisstö-
rung und eingeschränkter Krankheitseinsicht Techniken des fehlerfreien Lernens oder des proze-
durales Lernen bei unterschiedlichen Aufgaben eingesetzt werden: das Schreiben, das Überqueren
der Straße und das Erledigen von Einkäufen.
Die Palette der Störungen und der therapeutischen Methoden in der Neurorehabilitation ist
vielfältig. Das Spektrum erstreckt sich auf der einen Seite von der Lähmung bis zur Denkfähig-
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