2.1 Stimulus-Response versus spontanes Verhalten
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2.1 Stimulus-Response versus spontanes Verhalten
Unser zentrales Nervensystem
verarbeitet
Informationen nicht nur, sondern
erzeugt
auch Infor-
mationen. Das heißt: Verhalten kann sowohl als Reaktion auf einen Reiz wie auch spontan erfol-
gen. In Praxis und Wissenschaft liegt jedoch der Schwerpunkt immer noch auf dem Denkmodell
der reaktiven Informationsverarbeitung, also dem Anbieten von Reizen, der Aktivierung oder
Abschwächung von Reflexen, der Veränderung von Umgebungsfaktoren und der Gestaltung von
Struktur. Viele Therapien basieren auf diesem Prinzip, indem sie versuchen, geeignete Reize zu
finden, mit deren Hilfe erwünschte Reaktionen ausgelöst werden, beispielsweise:
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Fazilitationstechniken zur Verbesserung der motorischen Kontrolle,
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Reize, Handgriffe oder Körperhaltungen zur Tonusminderung,
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passive Bewegungen zur Reaktivierung von Bewegungsmustern im Gehirn,
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vestibuläre Reizung zur Verbesserung des Gleichgewichts,
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Anbringen von Streifenmustern auf dem Fußboden zur Unterstützung des Gehens,
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schriftliche oder mündliche Instruktionen, z. B. während eines Transfers,
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Bilderserien zur Verdeutlichung einer Handlungskette,
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ein individueller Tagesplan für den Patienten,
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Einsatz von Musik zur Verbesserung der Motorik, der Stimmung und des Wohlbefindens.
In all diesen Fällen werden de facto Reize gebraucht um Motorik, Handeln oder Verhalten zu
beeinflussen.
Alle diese Hilfestellungen können natürlich sehr nützlich sein. Jedoch, schlussendlich muss der
Patient auch lernen,
selbst
Aktivitäten zu unternehmen. Um dieses Therapieziel zu fördern,
interessiert also: Wo befindet sich der neurale Ursprung von spontanem, selbstausgelöstem Ver-
halten? Was bestimmt unseren
Handlungswillen
, und wie können wir diesen beeinflussen? Wir
wissen jedenfalls, dass beim Stimulus-Response-Handeln („vom Stimulus zur Reaktion“) und
beim spontanen Verhalten („von der Motivation zur Aktion“) grundverschiedene neurale Pro-
zesse wirken.
Dieser Unterschied zwischen spontanem und reaktivem Verhalten zeigt sich an vielen Bei-
spielen.
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Motorische Entwicklung: Bereits lange vor der Geburt gibt es neurale Aktivität, die u. a. zu
fetalen Bewegungen führt. Dabei geht es nicht um Reflexe, wie oft behauptet wird. Die moto-
rische Entwicklung des Kindes wurde früher als eine Art Kumulation von Reflexen mit einer
immer komplexer werdenden Motorik angesehen. Heute gehen wir davon aus, dass das Kind
zunächst spontane, später intendierte Bewegungen macht, die je nach Umgebungstyp unter-
schiedliche Folgen haben (Feedback, Reafferenz). Hierdurch bilden sich im Gehirn nachhalti-
ge Gedächtnisspuren aus. Sogar in Gewebeproben ist dieses Prinzip der spontanen neuronalen
Aktivität nachweisbar: bei der Züchtung von Neuronen aus Stammzellen entstehen neuronale
Verbindungen und schließlich ein neuronales Netz. Ab diesem Moment kann man auch elek-
trische Spontanaktivität registrieren.
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Bildgebende Untersuchungen jüngeren Datums ergeben, dass die Spontanmotorik im Gehirn
eher medial und die Reaktivmotorik eher lateral angeordnet ist (Abb. 2.1, 2.8 und Kap. 2.5.6
und „Interne und externe motorische Steuerung“). Beimmedialen motorischen System ist auch
das limbische System mit einbezogen: spontane Motorik ist oft emotional bestimmt (engl.
inner drive
). Beim lateralen System spielt vor allem der Kortex eine wichtige Rolle: Die Situ-
ation wird analysiert und verstanden, das Handeln ist mehr reaktiv und situationsabhängig.