3.4 Beispiele aus der experimentellen Neurowissenschaft
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Gothe
und Mitarbeiter (2002) stimulierten mittels transkranieller Magnetstimulation (TMS)
die Sehrinde gesunder, sehbehinderter und blinder Personen. Normalerweise führt diese Reizung
zur Entstehung sog.
Phosphene
(bewusst wahrgenommene blitzartige Lichterscheinungen). Alle
Sehenden, aber nur 60 Prozent der Sehbehinderten und 20 Prozent der Blinden nahmen Phos-
phene wahr. Offensichtlich verliert die Sehrinde nach langanhaltender Deprivation ihre Fähig-
keit, bewusste visuelle Wahrnehmungen zu erzeugen.
Blinde Katzen: Schnurrhaare und Gehör
Erblindet eine Katze, beispielsweise infolge Glaukom, dann nimmt die Länge ihrer Schnurrhaa-
re erheblich zu (Rauschecker, 1995). Gleichzeitig sieht man, dass sich die zu einem Schnurrhaar
gehörenden Rindengebiete erweitern. Fehlen visuelle Informationen, dann wird den Schnurr-
haaren mehr Hirnrinde zur Verfügung gestellt. Auch die erblindete Katze ist dadurch noch in
der Lage, nachts auf die Fensterbank zu klettern, ohne etwas umzustoßen. Auch fand man bei
blinden Katzen eine stark verbesserte Geräuschlokalisierungsfähigkeit. Ihre kortikalen Hörgebie-
te waren deutlich größer als bei sehenden Katzen.
Spätere Untersuchungen mit Lautlokalisierungsaufgaben bei kongenital blinden Menschen
haben nachgewiesen, dass bei ihnen auch der visuelle Kortex aktiviert wird (Rauschecker in: Peretz
und Zatorre, 2003). Es hat sich gezeigt, dass Blinde, verglichen mit augenverbundenen Sehen-
den, überlegen sind in räumlichen Navigationsaufgaben (Routen). Das Volumen ihres Hippo-
campus war signifikant größer (Fortin et al., 2008).
Diese Untersuchungen zeigen alle deutlich, dass der visuelle Kortex nicht dahin gehend „vor-
bestimmt“ ist, nur visuelle Information zu verarbeiten. Vor allem bei kongenital und früh erwor-
bener Blindheit kann der visuelle Kortex supplementär für andere Sinne eingesetzt werden (Sche-
pers et al., 2012). Das Gehirn eines kongenital Blinden hat eine völlig andersgeartete Verdrahtung
(connectivity),
bei der sogar Gebiete wie z. B. der präfrontale Kortex einbezogen werden, die sonst
anderen Funktionen dienen (Liu et al., 2007; Ma und Han, 2011).
Gehörlose und visuelle Aufmerksamkeit
Neville
untersuchte evozierte Potenziale bei Gehörlosen, denen visuelle Bewegungs- und Farb-
reize angeboten wurden (in Shaw und McEachern, 2001). In Abb. 3.20 wird deutlich, dass der
Gehörlose viel stärker auf den Bewegungsreiz anspricht als der Sehende, während sich die Reak-
tion auf den Farbreiz kaum von der des Sehenden unterscheidet. Intuitiv verstehen wir, dass in
Abb. 3.19 Intermodale Plastizität, Übersicht
Lokalisierung der Hör-, Seh- und Tastrinde bei Gesunden (oben). A. Bei Blinden nimmt der Umfang der soma-
tosensorischen und akustischen Rindengebiete zu. B. Bei Gehörlosen erweitern sich die somatosensorischen
und visuellen Gebiete. C Bei Anästhesie (Verlust des Tastsinns) vergrößern sich die optischen und akusti-
schen Gebiete. Ist die Störung angeboren oder frühkindlich erworben, dann ist der Effekt maximal.
A
blind
taub
gefühllos
B
C