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Plastizität
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kommt. Die Situation hat sich zum Glück gewandelt: Derzeit sind zahlreiche wissenschaftliche
Untersuchungen zu diesem Forschungsgegenstand im Gang und es entfaltet sich ein faszinieren-
des Gedankengut mit vielen Anwendungsmöglichkeiten.
Es soll betont werden, dass Plastizität keine Entität, nicht „ein Ding“ ist:
die
Plastizität
„besteht“ nicht, Plastizität ist vielmehr eine allgemeine, sehr elementare Eigenschaft unseres Ner-
vensystems, jedes lebenden Neurons und vermutlich auch aller übrigen Körperzellen. Plastizi-
tät ist gewissermaßen überall gegeben. Indem es Neuronen gibt, gibt es Plastizität. Sie existiert
auch beim gealterten Organismus, bei Hirnläsionen und bei Demenz. Aussagen wie „Vermin-
dern oder Fördern der Plastizität“ klingen deshalb immer ein bisschen naiv.
Mit Plastizität verhält es sich also ähnlich wie mit dem Begriff „Presse“, ein Phänomen, das
in jeder Gesellschaft vorkommt. Sie erstreckt sich von der Gerüchteküche bis hin zu den Tages-
themen. Sie befindet sich im Laptop des Journalisten wie in der Druckerei des Reichstags. Wol-
len wir die Presse fördern? Nein, sie ist einfach da und stürzt sich auf allerlei Neuigkeiten. Wenn
ich der Presse Beweise für die Bestechlichkeit eines hohen Politikers zuspiele, dann hat das mit
Sicherheit einen großen Effekt (dieselbe Information über meinen Nachbarn hat allenfalls keinen
Effekt!). Aber habe ich die Presse damit gefördert? Eigentlich nicht, weil sie war immer schon da
und wird jetzt auf eine bestimmte Art und Weise aktiviert. Jede Ursache hat ihre Folgen.
Plastizität ist in seiner Phänomenologie vergleichbar mit dem Gedächtnis: Auch das Gedächt-
nis „besteht“ nicht, Gedächtnis ist nicht ein Ding, aber es gibt mehrere Ausprägungsformen des
Gedächtnisses. Auch Gedächtnis ist omnipräsent.
In gleicher Weise ist die Plastizität überall vorhanden, war immer schon da und wird aktiviert,
wenn sich etwas ändert, sei es in Form des Auftretens einer degenerativen Erkrankung (Morbus
Parkinson), eines peripheren Nervendefekts, einer Amputation, eines Schädel-Hirn-Traumas,
eines Schlaganfalls, einer chronischen oder akuten Erblindung, eines Hörverlusts, des Erlernens
neuer Fertigkeiten (Autofahren, Snowboarding, Musizieren) oder der Modifikation einer vor-
handenen Fertigkeit (blind tippen lernen). All dieses geht mit plastischen Veränderungen des
Nervensystems einher, deren Ziel die Optimierung und Anpassung an die neue Situation ist. Es
ist unzweifelhaft, dass dieser wichtige Mechanismus in die Evolution eingebunden war. Neben
unserer genetischen Struktur ist Plastizität eine Basis für unsere enorme Diversität: Jedes Indivi-
duum hat seine eigenen, einzigartigen Lernerfahrungen, hat seine eigenen, einzigartigen Krank-
heiten durchgemacht und funktioniert in seiner eigenen, einzigartigen Umgebung.
Durch Plastizität sind wir individuell noch unterschiedlicher, als wir es allein schon aufgrund unserer
genetischen Ausstattung sind.
Über diesen Normalfall hinaus induzieren beispielsweise Hirnschädigungen (zerebrovaskuläre
Insuffizienz, Trauma) noch weiter gehende plastische Veränderungen, wodurch die individuel-
len Unterschiede sogar noch zunehmen.
3.2 Entwicklung, Lernen undWiederherstellung
Aus dem bisher Gesagten lässt sich ableiten, dass Plastizität in drei Bereichen von vitaler Bedeu-
tung ist:
●●
Entwicklung des Nervensystems,
●●
Lernen und Gedächtnis (inklusive Übung, Training und Therapie),
●●
Wiederherstellung nach peripherer und zentraler Läsion.
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