3.8 Beeinflussbarkeit der Plastizität
85
wirken, also dort, wo der Schlüssel aller plastischen Veränderungen verborgen ist. Der Parkin-
son-Patient „Ivan“ beschreibt, dass er seine Erfahrungen am Billardtisch, wenn er „on the pill“
ist (also L-Dopa), nicht benutzen kann, wenn er „off the pill“ ist.
Zum Ausmaß und zur Geschwindigkeit kortikaler Reorganisationen gibt es nur wenige unmit-
telbare Studien.
Ziemann
und Mitarbeiter (2001) konnten beispielsweise zeigen, dass eine isch-
ämische Nervenblockade (Deafferenzierung) in Kombination mit motorischem Training die
plastische Reorganisation der motorischen Hirnrinde fördert, was sie einer veränderten Inhibiti-
on durch GABA (Gamma-Aminobuttersäure) zuschreiben. Tierexperimentelle Untersuchungen
haben gezeigt, dass manche Substanzen die Wiederherstellung nach Hirnschädigung fördern bzw.
eine Degeneration oder Atrophie hemmen können (Kap. 4). Ein Nachteil von Pharmaka ist die
Tatsache, dass sie ihren Effekt nicht nur im angezielten Gebiet haben, sondern auch in anderen
Hirnarealen. So würde eine neurotrophe Substanz in einem bestimmten Gebiet günstig wirken,
indem sie das Sprouting fördert und die Synapsenausbildung stimuliert. In anderen Hirnarea-
len könnten sich dieselben Effekte jedoch gerade ungünstig auswirken. Die pharmakologische
Beeinflussung ist also noch nicht reif für praktische klinische Anwendung.
In den letzten Jahren sind immer mehr Publikationen über den Einfluss von transkranieller
Magnetstimulation (TMS) auf der Plastizität erschienen.
Stefan
und Mitarbeiter (2000) weisen
darauf hin, dass die gleichzeitige Stimulation des N. medianus zentral mittels TMS und peripher
mittels elektrischer Reizung zu plastischen Veränderungen der motorischen Rinde führt (Kap. 4).
Im Gegensatz zu den scheinbar unvermeidlichen Versuchen, Plastizität durch Arzneimittel
oder künstliche Prozeduren in den Griff zu bekommen, scheint es uns angeraten und förderlich,
in erster Linie ganz allgemeine und gut bekannte Lernprinzipien zu beachten, die inzwischen
auch wissenschaftlich ausreichend untermauert sind.
Konsequenzen daraus für die Förderung von Plastizität sind:
●●
Schaffung einer stimulierenden Umgebung beziehungsweise Vermeidung von Deprivation.
●●
Sorge dafür tragen, dass die Patienten körperlich aktiv sind; Sport und körperliche Leistung wir-
ken günstig.
●●
Aktivitäten anbieten, vor allem gewünschte und selbst gewählte Aufgaben, nicht nur, um den Pati-
enten zu beschäftigen, sondern als Maßnahme, um die Plastizität des Gehirns zu optimieren. Dies
ist insbesondere angezeigt in den Fällen einer beginnenden degenerativen Krankheit.
●●
Die Motivation des Patienten fördern (Motto: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg).
●●
Emotionen fördern. Begleitende Gefühle verstärken den Lerneffekt. Eine Aktivität, über die sich der
Patient freut, wird schneller gelernt. Umgekehrt kann auch die Befürchtung zu stürzen ein Lauftrai-
ning günstig beeinflussen.
●●
Ohne Preis kein Fleiß. Jede Übung sollte demPatienten einenmerklichenVorteil bringen, also etwas
Gewünschtes liefern. Wir haben bereits zahlreiche Beispiele für die Bedeutung positiver Verstärkung
(Reinforcement) bei plastischen Veränderungen gegeben.
In Kapitel 9 gehen wir noch intensiver auf diese und weitere Grundsätze ein.
Die Plastizität des ZNS bietet eine robuste biologische Basis für die Effektivität von Lernprozessen, Trai-
ning und Therapie. Das statische Hirnmodell ist nicht mehr gültig. Die Zeit des therapeutischen Nihi-
lismus ist vorbei. Wurde das Phänomen der Plastizität in den achtziger Jahren noch angezweifelt, ist
es inzwischen auf allen Ebenen bewiesen: vom Molekül bis zum manifesten Verhalten, von peripher
bis zentral, in jedem funktionellen System. Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten von plastischen
Veränderungen wesentlich umfangreicher und tiefgreifender sind, als wir zunächst gedacht haben.
Das Fundament für die Neurorehabilitation hat sich erheblich verstärkt.