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3.2 Entwicklung, Lernen und Wiederherstellung
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3.2.1 Entwicklung des Nervensystems
Das kindliche Nervensystem besitzt eine ganz andere Plastizität als das eines Erwachsenen.
Man vergleiche das mit dem Bau eines Hauses: Beim Bau eines Hauses lassen sich während
der Bauphase noch eingreifende Veränderungen des Grundrisses und des Baumaterials realisie-
ren. Im Rohbau ist das Haus noch sehr plastisch, die Einrichtung ist noch nicht festgelegt. Ande-
rerseits ist das Haus in diesem Stadium jedoch noch nicht bewohnbar. Es gibt ja kein Inventar.
Wird in dieser Phase kein stabiles Fundament gelegt, dann werden sich unwiderruflich Nachtei-
le ergeben: das Haus versackt und bleibt schief.
Nach dem Rohbau folgt die Inneneinrichtung. Die Außenmauern stehen fest, aber die Innen-
einteilung ist noch flexibel. Mit ein wenig Mühe kann sogar noch die eine oder andere Zwischen-
wand, ein Fenster oder eine Tür versetzt oder können sogar die Räumlichkeiten für Badezimmer
und Küche getauscht werden. Die Möblierung ist noch völlig offen (sehr plastisch). Am Schluss
wird das Haus mit allem gefüllt, was wir besitzen.
Auch das kindliche Gehirn ist in den frühen Stadien offen für Veränderungen (Rohbau) und
in ihm sind noch kaum Erfahrungen gespeichert (Inventar).
Es wird oft behauptet, dass das Gehirn junger Menschen plastischer und restitutionsfähiger als
das älterer Personen sei (engl.
early plasticity
): der sogenannte
Kennard-Effekt
.
Margareth Kennard,
experimentierte mit Affen, denen Teile der primären motorischen Hirnrinde entfernt wurden,
und fand heraus, dass die Lähmungserscheinungen bei jungen Tieren schneller abklangen als bei
älteren Tieren. Fälschlicherweise werden diese Ergebnisse auf jüngere versus ältere Schlaganfallpa-
tienten extrapoliert. Diese Schlussfolgerung ist aus folgenden Gründen kritisch zu hinterfragen:
●●
Kennards
Experimente betrafen nur primäre motorische Funktionen (Motorik, Parese) und
erlauben keine Aussagen über höhere Funktionen wie Sprache und Intelligenz.
●●
Ein Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen erlaubt noch keine Rückschlüsse über
Unterschiede zwischen Erwachsenen verschiedenen Alters.
●●
Ein höheres Alter hat nicht nur Nachteile (körperliche Gebrechen), sondern auch Vorteile
(Erfahrung und Weisheit).
●●
Während der Entwicklung kann das Nervensystem auch besonders anfällig sein (sog. kriti-
sche Perioden). Wir wissen, dass beispielsweise emotionale Verwahrlosung und Stress wäh-
rend bestimmter Entwicklungsphasen schwerwiegende Folgen haben können. Der Einfluss der
Umgebung auf die Entwicklung des Gehirns ist wissenschaftlich längst nachgewiesen (Renner
und Rosenzweig, 1987; Kolb, 1995).
●●
Das Vorkommen perinataler Schädigungen: Hirnschädigung vor oder nach der Geburt (z. B.
durch Anoxie) ist eine häufige Ursache für spastische und geistige Behinderung. Wenn die Plas-
tizität in jungem Alter wirklich so viel größer wäre, würden diese Kinder nicht so schwere Stö-
rungen und gravierende Probleme haben!
Kennards
Forschungsergebnisse sind also nicht allgemeingültig.
Bryan Kolb
(1995) merkt in die-
sem Zusammenhang kritisch an, dass bis zur Klärung dieses Missverständnisses wohl hundert
Jahre vergehen werden. Der Einfluss des Alters ist als erheblich komplexer anzusehen, als
Ken-
nards
Untersuchungen vermuten lassen (s. a. Anderson, 2011).
Damit soll aber keineswegs behauptet werden, dass das kindliche und das erwachsene Gehirn
gleich seien. Es gibt durchaus fundamentale Unterschiede. Typische Prozesse des kindlichen
Gehirns betreffen die Neuentstehung und Wanderung von Neuronen (Neurogenese, Neuro-
nenmigration), die Myelinisierung und den programmierten Zelltod (Apoptose) (siehe „Zell-
tod: Nachteil oder Vorteil?“). Ausschließlich zur Entwicklungsphase gehörende plastische Phä-
nomene sind beispielsweise Veränderungen des kortikalen Bandmusters vom linken und rechten
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