6.1 Motorik und Gedächtnis
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6.1 Motorik und Gedächtnis
Im vorangegangenen Kapitel wurde die vielgebrauchte Einteilung in deklaratives und prozedu-
rales Gedächtnis beschrieben. Über die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses und entsprechen-
de Lernprozesse kann man bewusst berichten, prozedurales Lernen verläuft dagegen unbewusst.
Für den Bereich der motorischen Fertigkeiten ist diese dichotome Einteilung allerdings nicht
zielführend, da hier sowohl bewusste als auch unbewusste Prozesse stattfinden.
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Der Pianist sucht bewusst nach einem effektiven Fingersatz. Wenn dieser gefunden ist, wird er
bewusst und „aufmerksam“ geübt. Wenn die Passage nach dem Üben beherrscht wird, kann
diese immer mehr ohne bewusste Reflexion, d. h. automatisch und gedankenlos, gespielt wer-
den. Hier ist also nur die letzte Phase „prozedural“ im Sinn von unbewusst verlaufend.
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Ein CVI-Patient mit einer Hemiparese übt intensiv, um wieder so normal wie möglich gehen
zu können. Der Therapeut gibt Demonstrationen und Instruktionen, um den Patienten auf
die richtige Fußabwicklung und Kniebeugung aufmerksam zu machen. Bei diesem Ansatz hat
man es also zunächst mit einem ziemlich bewusst verlaufenden Prozess zu tun. Schlussendlich
hoffen wir natürlich, dass dieser Patient im Lauf der Zeit lernt, automatisch zu gehen, sodass
er auch Doppelaufgaben bewältigen kann (sprechend Gehen, Gehen im Verkehr).
In beiden Beispielen sehen wir, dass die
explizite
Strategie die Oberhand hat in der Anfangsphase;
in dieser Phase werden präfrontale Gebiete eingesetzt (Abb. 2.5). In einer späteren Phase, wenn
die Fertigkeit beherrscht wird, verlaufen motorische Muster mehr
implizit
und automatisch, die
Bewegungen erfolgen fließend und fehlerlos; die präfrontalen Gebiete sind nicht mehr einbe-
zogen, dafür vermehrt Gebiete an der Hinterseite und tiefe Kerne des Gehirns. Aus der Praxis
ist bekannt, dass implizite und explizite Strategien einander konterkarieren können: Leistungen
von Musikern und Sportlern können beeinträchtigt werden, wenn während eines Konzerts oder
Wettkampfs die explizite Strategie – ungewollt – die Oberhand gewinnt. Es ist bekannt, dass
dadurch sogar Karrieren zugrunde gegangen sind.
Bewusstes Nachdenken über Bewegungen wird oft als Nachteil erfahren! Erinnert sei an denWitz vom
Tausendfüßler, der – gefragt, wie er seine Beine koordiniere – ins Stolpern gerät.
Man kann also nicht einfach sagen, dass motorisches Lernen eine Form von prozeduralem oder
implizitem Lernen sei. Das hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie man die Begriffe „prozedural“
und „implizit“ definiert (und das variiert in der Literatur). In einem kritischen Übersichtsarti-
kel setzt
Song
(2009) dann auch auseinander, dass die traditionelle Einteilung des Gedächtnisses
nicht angemessen ist für motorisches Lernen und dass man vielleicht andere Einteilungskriterien
anwenden müsse. Ein solches Kriterium könnte „Aufmerksamkeit“ sein: Erfordert der motori-
sche Lernprozess fokussierte Aufmerksamkeit oder kann er auch ohne Aufmerksamkeit verlaufen?
Es ist z. B. interessant, dass vor allem bei aufmerksamem Lernen eine nachfolgende Ruhe- und
Schlafperiode zu einer Leistungsverbesserung führt (sogenanntes „
off-line enhancement“)
. Wie
so oft zeigt sich das Problem viel komplizierter, als man zunächst dachte: Mit dem wechselnden
Einbezug der Faktoren Aufmerksamkeit, Schlaf und Ruhe verfügt das Gehirn offenbar über ver-
schiedene motorische Lernstrategien.
6.2 Der Lernkreis: Lernen am Erfolg
Sensorik und Motorik sind untrennbar miteinander verbunden. Jeder Handschuhträger weiß,
wie schwierig es ist, mit einer gefühllosen Hand einen Hemdknopf zu schließen. Wer sehbehin-