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10.1 Vorbemerkungen
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Dieses Zitat ist auch heute noch hochaktuell. Der verständnisvolle Lebenspartner eines Patien-
ten erreicht mit Engagement und gesundem Menschenverstand häufig mehr als der beste Phy-
siotherapeut. Therapeutische und/oder ärztliche Interventionen sind oft gar nicht der entschei-
dende Wirkfaktor. Darum erscheint es sinnvoll, innerhalb des Behandlungsteams immer wieder
die Bedeutung von nachvollziehbaren Lernprinzipien hervorzuheben, die für jeden eingängig
sind. Typische ärztliche Interventionen wie die Gabe von Arzneimitteln, Transplantationen oder
Nervenblockaden können als flankierende Maßnahmen eine Rolle spielen, aber sie stehen meis-
tens eher im Hintergrund. So gesehen, ist Rehabilitation keine fachärztliche Disziplin und die
evidenzbasierte Medizin nicht immer das entscheidende Kriterium. Dass ein Kind in der Schule
das Einmaleins und ein bestimmtes Sozialverhalten erlernt, ist in diesem Sinne ebenso evidenz-
basiert, jedoch nicht im Sinne einer Effektuntersuchung, sondern eine kollektive Erfahrung, die
wir mit bestimmten Erziehungsmethoden verbinden.
Leider gibt es auch jetzt noch immer einen manchmal heftig geführten Streit zwischen den
Schulen. Auch diesbezüglich trifft Harris schon 1984 den Nagel auf den Kopf, indem er sagt:
„Nur solche Behandler, die motiviert und kompetent genug sind, sich aus dem gesamten Arsenal
der zur Verfügung stehenden Methoden selektiv zu bedienen (statt Fürsprecher einer einzigen
Methode zu sein), sind in der Lage, effektiv mit der enormen Symptomenvielfalt umzugehen, die
man im Gebiet der Neurorehabilitation begegnet.“
In der kognitiven Rehabilitation zeichnen sich bereits ähnliche Tendenzen ab. Inzwischen gibt es
fanatische Verfechter bestimmter Methoden wie computerbasiertes Training oder Psychothera-
pie, während das Gesamtrepertoire viel breiter gefächert ist (siehe auch die interessante Diskus-
sion bei
Wilson,
1997, und
Prigatano,
1997). In diesem Sinne ist auch der Inhalt dieses Kapi-
tels zu verstehen.
Jeder Therapeut steht vor der Wahl zwischen vier Strategien:
●●
Funktionstraining,
●●
Stimulation,
●●
Kompensation oder
●●
Anpassung der Umgebung.
In den meisten Behandlungsplänen finden sich Elemente aller vier Behandlungsstrategien irgend-
wo wieder, wobei die Auswahl jeweils begründbar ist. In diesem Kapitel liegt der Schwerpunkt
auf den störungszentrierten Funktionstrainings. Doch werden – wenn erforderlich – auch sti-
mulierende, kompensierende oder auf die Anpassung der Umgebung ausgerichtete Maßnah-
men beschrieben.
In der Praxis sehen wir häufig kombinierte Strategien. Ein Hemiplegiker wird im Stehen sein
gesundes Bein stärker belasten (Kompensation), während des Trainings jedoch versuchen, ver-
stärkt sein gelähmtes Bein einzusetzen (Funktionstraining), eventuell unterstützt durch Fazilita-
tion der Beinextensoren (Stimulation). Ein Patient mit einer gefühllosen Hand wird diese stän-
dig visuell beobachten (Kompensation). Während der Übungen mit verbundenen Augen wird
er aber dazu gezwungen
(forced use),
sich ganz auf die verbliebene Sensibilität zu konzentrieren
(Funktionstraining, Stimulation). Aus lerntheoretischer Sicht sind solche kombinierten Behand-
lungsformen nicht immer unproblematisch und deshalb kritisch zu betrachten: was wäre eigent-
lich das Lernziel, wenn der Patient bei der einen Therapie auf dem gesunden und dann bei einer
anderen Therapie wieder auf dem gelähmten Bein stehen soll (Kap. 5, negative Interferenz)?
Ein störungszentriertes Training basiert immer auf einer
Problemanalyse
, aus der sich eine
kausale Beziehung zwischen der Störung und der Einschränkung oder dem Problem ergibt (Kap.
1 und 8, „Der empirische Zyklus“ und Abb. 8.3).
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